Helene Sophie Vischer (1895–1994)

Empathisch und engagiert

 

Helene Sophie Vischer, 20.6.1895–10.1.1994

Stamm A

Helene Vischer hatte 22 Neffen und Nichten. Aus ihrem Kreis stammt der nachstehende Text, der anlässlich ihres Todes geschrieben wurde und an die beliebte Tante erinnern sollte. Wer genau ihn geschrieben hat, ist nicht mehr bekannt. Barbara Goepfert-Vischer hat den Text leicht gekürzt und redigiert.  

 

Helene Vischer ist am 20. Juni 1895 als viertes von sieben Kindern von Wilhelm und Helene Vischer-Iselin auf die Welt gekommen. Im weltoffenen und gastlichen Hause mit dem grossen Garten an der Rittergasse hat sie, geborgen im Kreise der Familie, eine glückliche Jugend verbracht. Im Jahre 1908 wurde diese schöne Zeit jäh unterbrochen durch den frühen Tod ihrer Mutter als Folge einer Blinddarmentzündung. Trotz der liebevollen Zuneigung des Vaters hat den heranwachsenden Kindern die liebende Mutter in der Folgezeit schwer gefehlt.

In England vom 1. Weltkrieg überrascht

Nach Abschluss der von den Damen Gütle und Jachmann geführten, renommierten Töchterschule verbrachte Helene Vischer das obligate Jahr im Pensionat im Welschland, wo sie Freundschaften fürs Leben geknüpft hat. Daran muss sich ein Aufenthalt in England angeschlossen haben, denn dort wurde sie 1914 vom Ausbruch des ersten Weltkrieges überrascht.

Zurück im elterlichen Haus sah sie ihre Aufgabe in der Betreuung des verwaisten Haushaltes an der Rittergasse. Sie stand ihrem Vater zur Seite, der seinen Kummer über den Verlust der geliebten Gattin in der täglichen Arbeit zu vergessen suchte und in der Übernahme zahlloser Aufgaben und Ämter im Dienste der Öffentlichkeit sowie wohltätiger Institutionen. Seine Tochter war ihm eine umsorgende Begleiterin, liebend bemüht, ihm zu helfen, wiederkehrende Perioden der Mutlosigkeit und der Depression zu überwinden.

Mit allen konnte sie es gut

Speziell verbunden fühlte sich Helene auch gegenüber ihrer jüngsten Schwester Annemarie, welche am frühen Verlust der geliebten Mutter schwer zu tragen hatte. Sie hatte die glückliche Gabe, mit Personen jeden Alters und unterschiedlichster Herkunft stets den richtigen menschlichen Umgang zu finden. Dieser Eigenschaft ist es wohl zu verdanken, dass sie im Verlauf der 66 Jahre, während derer sie nach dem Tode ihres Vaters selbständig und mit eigenem Haushalt gelebt hat, nur zwei verschiedene Personen in ihrem Hause beschäftigt hat. Mathilde Ehinger, die bereits im väterlichen Haus an der Rittergasse tätig war, hat während 40 Jahren, zunächst an der Zürcherstrasse und anschliessend im Seidenhof den Haushalt geführt und die zahllosen Besucher von nah und fern betreut. Während mehr als 25 Jahren hat anschliessend Giovanna Seravalle stets zuverlässig und treu die anfallenden häuslichen Arbeiten verrichtet. Sie hat wesentlichen Anteil daran, dass Helene bis zuletzt in ihrem trauten Heim, hoch über dem Rhein, hat wohnen können.

Sie stand im Zentrum der Familie

Nach dem Tode ihrer Eltern verkörperte Helene das Zentrum der grossen und wachsenden Familie. Als Taufpatin bzw. Gotte ihres ältesten Neffen, Sebastian Schiess, wurde sie in der Folge von allen nachkommenden Nichten und Neffen, insgesamt 22 an der Zahl, stets liebevoll einfach «Gotte» genannt. «Die Gotte war für uns heranwachsende Kinder eine begnadete Erzählerin, der wir immer erwartungsvoll und gebannt gelauscht haben, wenn sie uns Geschichten erzählt hat. Unvergesslich sind auch die regelmässigen Kinderfamilientage, an denen die Gotte nicht etwa als Respektperson, sondern als aktive Unterhalterin aufgetreten ist. Sie verstand es vortrefflich, uns immer wieder mit neuartigen Gesellschaftsspielen in Atem zu halten, wobei es bisweilen recht toll zuging!»

Bis vor wenigen Jahren hat sich die Familie der Grosseltern Vischer mit zugewandten Freunden alljährlich an Weihnachten bei Helene im Seidenhof versammeln dürfen, wo auch dem von ihr nach altem Familienrezept bereiteten Bischof[1] zugesprochen wurde.

Helene Vischer brachte sich dort ein, wo es nötig war

Mit Ausnahme von Mal- und Zeichenunterricht während einiger Semester an der Gewerbeschule hat Helene Vischer nie einen regulären Berufslehrgang oder ein Studium mit Zeugnis absolviert. Sie ist auch nie in konventionellem Sinne einer geregelten Arbeit mit Ferien- und Pensionsanspruch nachgegangen. Trotzdem war sie in vielen unterschiedlichen Bereichen fruchtbar tätig, meist im Dienste der Öffentlichkeit und für wohltätige Organisationen. Sie hat dort, wo sie es für wichtig hielt und wo ihre Dienste gefragt waren, selber die Initiative ergriffen. Sie war bereit, Verantwortung zu übernehmen und zu tragen, wobei ihr der klare Blick für das Wesentliche, die Entschlussfreudigkeit, das diplomatische Geschick sowie ihre natürliche und unkomplizierte Art im Umgang mit anderen Menschen sehr zugute kamen. Einige ihrer ausserfamiliären Aktivitäten seien nachfolgend kurz skizziert:

Als Kinder durften die Nichten und Neffen für Zeichen- und Malversuche Papier mit dem Signet des Basler Kammerorchesters verwenden. Daraus ist zu folgern, dass Helene Vischer damals für das im Aufbau befindliche Orchester die anfallenden Sekretariatsarbeiten verrichtete.

Ein spezielles Anliegen war Helene Vischer das Engagement in der Basler Webstube[2]. Seit 1924 gehörte sie dem Vorstand an. Sie blieb in dieser Funktion der Webstube während 44 Jahren aktiv verbunden. Sie hatte ein grosses Herz für die behinderten «Webstübeler». Viele von ihnen kannte sie beim Namen. Immer wieder fand sie Zeit bei ihren Besuchen zu einem kurzen Schwatz mit ihnen. Daneben sorgte sie in Zeiten der Geldnot erfolgreich für die nötige finanzielle Unterstützung der Institution durch Handel und Industrie.

Bei Kriegsausbruch, im Jahre 1939, meldete sie sich im Frauenhilfsdienst (FHD) und wurde Fahrerin in einer Rotkreuzkolonne. Aber bald wurde sie in den Stab des 2. Armeekorps berufen, wo ihr als «Inspektorin» die Betreuung aller im Stab eingeteilten Frauen zustand. Sehr zu ihrem Leidwesen musste sie in der Folge den aktiven Dienst an der Basis als Fahrerin, der ihr besonders Freude gemacht hat, aufgeben. Aktiv in der Reorganisation des militärischen Frauenhilfsdienstes engagiert, wurde sie später Dienstchef im 2. Armeekorps und dort zuständig für Presse und Rundfunk. Ihre Verbundenheit mit dem Frauenhilfsdienst wird bezeugt durch ihre langjährige Tätigkeit als Redaktorin der FHD-Zeitung.

Nach dem Krieg geht sie zum Roten Kreuz

Gegen Ende des 2. Weltkrieges bereiste sie das befreite Elsass, wo sie bei den Hilfsaktionen der Kinderhilfe des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK) mithalf, einer Organisation, der sie während langer Zeit ihre Schaffenskraft zur Verfügung stellte.

Nach ihrem altersbedingten Ausscheiden aus der Armee war sie weiter aktiv tätig für das Schweizerische Rote Kreuz, zunächst als Mitglied des Komitees und später als dessen Vizepräsidentin. So wurde sie 1960 als Delegierte des Internationalen Roten Kreuzes (IKRK)mit der Leitung der Hilfsaktion für Opfer der Speiseölvergiftung in Marokko betraut. Während ihres Aufenthaltes in diesem Lande ereignete sich das schwere Erdbeben in Agadir. So wurde ihr auch die Organisation und Überwachung der einsetzenden Hilfsaktion des Internationalen Roten Kreuzes für die Erdbebenopfer übertragen. Dabei hat sie die Grenzen der humanitären Hilfe in einem autoritär regierten Lande klar erkannt und mutig bei den zuständigen Behörden auch publik gemacht.

In den späteren 60er-Jahren empfing Helene Vischer als Rotkreuzbeauftragte die ersten Tibet-Flüchtlinge in der Schweiz. Im Auftrag des Roten Kreuzes reiste sie anschliessend nach Indien und besuchte die dortigen Flüchtlingslager, um die Auswahl der Flüchtlinge, die unser Land aufnahm, zu organisieren. Dabei ist sie in Dharamsala auch mit dem Dalai Lama zusammengetroffen, mit dem sie seither freundschaftliche Beziehungen unterhielt. So hat sie anlässlich eines Besuches des Dalai Lama in der Schweiz als einzige Frau am offiziellen Empfangsessen – auf dessen persönliche Intervention hin und entgegen dem Protokoll – direkt neben dem Ehrengast sitzen dürfen! Zu einem späteren Zeitpunkt, als sie schon weit über 90 Jahre alt war, freute sie sich sehr darüber, dass sich der Dalai Lama anlässlich einer kirchlichen Tagung in Basel die Zeit nahm, ihr im Seidenhof einen Besuch abzustatten.

Aktiv bis ins hohe Alter, auch politisch

Helene Vischer hat sich stets für die Geschicke ihrer Vaterstadt und für das politische Tagesgeschehen interessiert. Von echt liberaler Gesinnung ist sie dem Landesring der Unabhängigen (LdU) beigetreten, zu einem Zeitpunkt, wo andere politische Parteien Frauen als Mitglieder noch gar nicht in Betracht zogen. Von 1965–1969 vertrat sie den LdU im Weiteren Bürgerrat[3].

Aufgewachsen in einem Haus mit grossem Garten, und angeregt durch die regelmässigen Ferienaufenthalte mit der Familie auf dem St. Romay im oberen Baselbiet, hatte Helene Vischer stets eine besondere Liebe zur Natur und zur Landwirtschaft. So erwarb sie 1935 den Hof Gisiberg oberhalb Tenniken im Oberbaselbiet, der während 20 Jahren in ihrem Besitz blieb. Das gute persönliche Verhältnis zur Pächterfamilie war ihr dabei stets ein spezielles Anliegen. Mit ihren Bemühungen, den Hof konsequent auf biologische Düngung umzustellen war sie ihrer Zeit weit voraus. Im Dorf Tenniken erregte sie dadurch Staunen und wurde zu einer bekannten Persönlichkeit

Im reifen Alter von fast 70 Jahren erfüllte sich Helene Vischer den Wunsch nach einem eigenen Haus im Grünen, denn bei aller Liebe für die schöne Wohnung im Seidenhof, fehlte ihr doch mitten in der Stadt der Garten und die Natur. Im Kalten Wasser bei Todtmoos verbrachte sie fortan allein oder mit Verwandten und Freunden ihre Wochenenden und mit zunehmendem Alter auch ihre Ferien. Hier fand sie Ruhe und Entspannung und bei einsamen Wanderungen über Felder und durch Wälder den Kontakt zur Natur.

Helene Vischer war Mitglied in einer Gruppe der Petersgemeinde, die sich «Ketzerkreis» nannte. Die Frauen und Männer, die dort mitmachten, wollten einerseits ihre persönlichen Zweifel und andererseits Ansichten anderer Religionen zur Sprache bringen und mit der christlichen Tradition vergleichen. Helene Vischer, die im Bewusstsein auf ein Leben nach dem irdischen Sterben lebte, war an diesen Fragen ganz besonders interessiert. Die Begegnung mit der tibetisch­ buddhistischen Kultur und mit dem Dalai Lama persönlich hatte bei ihr viel in Bewegung gebracht.

Helene Vischer hatte das Glück einer guten Konstitution und Gesundheit, sodass sich die Beschwerden des Alters erst in den letzten Lebensjahren behindernd bemerkbar machten. Bis zum letzten Tag hat sie am Tagesgeschehen aktiv teilgenommen. Am Fenster ihres Wohnzimmers sitzend hat sie sich gefreut über die Möven am Rhein und die Spatzen vor dem Fenster. Dazu hat sie dankbar aus früheren Zeiten erzählt.

 

Anmerkungen

[1] Traditionelles, leicht süssliches Getränk aus Wein und Fruchtzusätzen, das in Basel zur Weihnachts- und Neujahrszeit zum Apéro serviert wurde und wird.

[2] Heute WohnWerk (Missionsstrasse 47, 4055 Basel) und noch immer ein Ort für Menschen mit Beeinträchtigungen.

[3] Heute Bürgergemeinderat

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