Antoinette Vischer (1909–1973)

Musikerin und Mäzenin.

Marguerite Bertha Antoinette Vischer, 13.2.1909 bis 28.12.1973,
Stamm D

Rudolf Sulger, 1896 – 1972, geschieden

 

von Dr. phil. Bodo Vischer

Antoinette Vischer war auffallend klein und rundlich – nun ja, ein Pummelchen. Sie litt nachweislich unter ihrem Aussehen, unter ihrer gedrungenen Statur, ihrem schütteren Haar und ihren allzu kurzen Fingern. Jedoch wusste sie dies «mit grosser menschlicher Grandezza» wettzumachen, wie einer ihrer langjährigen Weggefährten, der Komponist Rolf Liebermann, hervorhob.

Zu dieser Grandezza gehörte, dass sie die Gabe besass, mit natürlicher Selbstverständlichkeit in den Mittelpunkt jeder Gesellschaft zu rücken. Personen, die ihr nahestanden, sprachen von «ihrer Unmittelbarkeit und Bereitschaft, sich mit Menschen auf das Abenteuer einer wirklichen Beziehung einzulassen». So vermochte sie auch Talente zu entdecken, unter ihnen etwa Friedrich Dürrenmatt, für den sie schon Mitte der 1940er-Jahre Lesungen organisierte, als dieser noch weitgehend unbekannt war. Sie besass nicht nur ein Gespür für die Musik, sondern auch für die bildende Kunst, für Architektur und Literatur. So liess sie sich anfangs der 1960er Jahre im elsässischen Hégenheim an einem Rebhang mit Blick auf Basel etwas «Verrücktes» bauen. Dabei gewährte sie den Architekten ihres Vertrauens, Rolf Gutmann und Felix Schwarz, freie Hand. So entstand ihr Wochenendhaus, das Hasenhaus.

Das «Hasenhaus» in Hégenheim fällt von weitem durch sein geschwungenes Dach auf.

Die Mutter stirbt zu früh

Antoinette suchte den Gegenentwurf zur Welt, in welche sie am 13. Februar 1909 hineingeboren wurde. Ihr Vater, Johann Jakob Egon Vischer (1883–1973), blieb Zeit seines langen Lebens ein Mann des 19. Jahrhunderts, der das ererbte Traditionsgut pflegte. Als Architekt und Teilhaber des Baugeschäfts Stehelin & Vischer war er unternehmerisch tätig. Verheiratet war er mit Emilie Kern. Um 1911/12 zog die Familie an die Lautengartenstrasse 7. Egon hatte dort nach seinen Plänen eine herrschaftliche Villa in neoklassizistischem Stil erbauen lassen.

Antoinette und ihr Vater im Wohnzimmer der Villa an der Lautengartenstrasse 7, um 1970.

Als Einzelkind hing Antoinette an ihrer Mutter, die im Laufe des Jahres 1919 an Krebs erkrankte. Sie fuhr mit ihrer damals knapp zehnjährigen Tochter zur Kur nach Davos. Antoinette hatte dort Privatunterricht, bis ihre Mutter im Juni 1921 verstarb. «Ich hatte nur Angst vor diesem Endgültigen und Angst allein zu sein», hielt Antoinette dazu in ihren Jugenderinnerungen fest. Schulprobleme verfolgten sie. Auch der zweijährige Aufenthalt im Hochalpinen Töchterinstitut in Ftan löste sie nicht. Am besten gefiel der Klavierspielerin alles, was mit Musik zu tun hatte. An einer Feier in Ftan verkleidete sie sich als Italienerin und sang italienische Liedchen «mit so grossem Erfolg, dass mich nachher alle nur noch ‹Tschinggeli› nannten», schrieb sie. Der nicht nur liebevolle Übername begleitete sie fortan. Verwandte bezeichneten sie mitunter auch verächtlich als «der Anton».

Mit 20 gibt sie ihr erstes Konzert

Die Schulprobleme hielten an. Schliesslich hatte der Vater ein Einsehen und erlaubte Antoinette, sich am Konservatorium einzuschreiben. «Endlich – war ich da, wo es schön war», bemerkte sie dazu. Am 1. Februar 1929 gab sie in den eleganten Räumlichkeiten an der Lautengartenstrasse ihr erstes Konzert mit Paul Sacher (1906-1999) und seinen Musikern.Dieses Erfolgserlebnis schien sie beflügelt zu haben, und so lotete sie die Möglichkeiten einer solistischen Karriere aus. Es folgten weitere Auftritte, auch im Ausland, bis sie ihre konzertierende Tätigkeit in den Privatbereich verlegte. Ein ausgewählter Kreis kam in den Genuss von gediegenen Hauskonzerten. Im Hintergrund wirkten Paul Sacher und seine Schola Cantorum Basiliensis. Sacher war es auch, der ihr riet, den Flügel gegen das Cembalo auszutauschen. Mit ihren kleinen Händen waren ihr die Tasten dieses Instruments leichter greifbar.

Rudolf Sulger, später Markus Kutter treten in ihr Leben

In den Nachkriegsjahren lernte Antoinette ihren künftigen, 13 Jahre älteren Ehemann, Rudolf Sulger, kennen. Die Hochzeitsfeier fand am 3. Mai 1934 in Arlesheim im Andlauerhof, der der Familie ihrer Mutter gehörte, statt. Das frisch vermählte Paar wohnte zunächst beim Vater Egon Vischer-Kern. Im Jahr 1942 zogen sie an die Malzgasse 21 in das Haus von Sulgers Mutter, Adèle Sulger-Burckhardt, die 1939 verstorben war. Das Paar entfremdete sich. 1953 kam es zur Scheidung, nachdem Sulger schon seit 1943 ein Doppelleben geführt hatte. Trost fand sie bei Dürrenmatt und seiner Frau. Über den Schriftsteller erschloss sie sich wohl auch jenen neuen Bekanntenreis, der sie ermutigte, zeitgenössische Musik zu spielen – ein Kreis von Intellektuellen, die sich der Avantgarde verschrieben hatten. Dazu gehörte nicht zuletzt ihr künftiger Lebenspartner, der 16 Jahre jüngere Markus Kutter.

Antoinette mit dem Ehepaar Dürrenmatt 1957 in Südfrankreich, links von ihr Markus Kutter.

Sie wird Förderin moderner Musik und Kunst

Eingebettet in einem grundlegend anderen geistigen Umfeld, brach sie die Brücken zur alten Welt ab. Sie entdeckte die zeitgenössische Musik und fing an, junge Talente zu fördern und moderne Kompositionen in Auftrag zu geben. 1957 wagte sie auch den Schritt, an der Malzgasse 30 in ein modern eingerichtetes Appartement mit modernen Bildern und Plastiken, unter anderen von Hans Arp und Marcel Wyss, zu ziehen. Markus Kutter, den sie Coucou nannte, wohnte nebenan. Sie hatte ihre Rolle gefunden und baute eine Sammlung moderner Kompositionen auf. In ihrem konservativen verwandtschaftlichen Umfeld stiess das auf Unverständnis, in Musikerkreisen auf offene Ohren. Der amerikanische Komponist John Cage (1912-1992) wurde ihr Favorit. Mit ihm war sie befreundet. Am Freitag, den 16. Mai 1969, fand die Uraufführung seines futuristischen Stücks HPSCHD statt, für Antoinette ein Höhepunkt in ihrem Leben. Dauer: von 19:30 bis Mitternacht. Ort: die futuristische Assembly Hall in Urbana, Illinois, die wie ein gelandetes UFO aussieht. Das Aufgebot: 7 verstärkte Cembalos, an einem spielte Antoinette, 52 Tonbänder, 59 Lautsprecher, 8 Filmprojektoren, 64 Diaprojektoren, die mit 40 Filmen und 6400 Dias gefüttert wurden.

Antoinette mit John Cage 1969 in Illinois (USA).

Das Progressive Museum entsteht

Am 28. April 1969 war es so weit: Am Leonhardsgraben 52 eröffnete das Progessive Museumseine Tore. Antoinette zählte mit Carlo Laszlo und Markus Kutter zu den Initianten. 24 Stiftungsräte trugen es. Gemäss

Stiftungsstatut wollten sie «dem Publikum die Möglichkeit geben, sich mit den Tendenzen der modernen Kunst auseinanderzusetzen.» Indessen war das Kapital von 120’000 Franken zu knapp bemessen, um diesen hohen Anspruch zu erfüllen. Dennoch bedeutete es, dass sich Antoinette von der stillen Mäzenin zur engagierten, öffentlich auftretenden Kulturmanagerin wandelte.

In selbstbewusster Pose.

Ihr Leben endet 1973 abrupt und tragisch

Nach anfänglichem Erfolg im Progressiven Museum legte sich in den frühen 1970er-Jahren ein Schatten auf Antoinettes Leben. Ihr langjähriger Lebenspartner, Coucou, hatte sich von ihr getrennt. Die alte Angst vor dem Alleinsein kam wieder hoch. Es gelang ihr indes, sich wieder aufzurappeln. Dazu trug wohl bei, dass sie in dem Schriftsteller und Filmemacher Heinrich Henkel einen neuen Weggefährten gefunden hatte.

In jener Zeit lebte sie wieder an der Lautengartenstrasse 7 bei ihrem betagten und schwerkranken Vater, der allerdings bald darauf, im Oktober 1973, verstarb. Wieder war sie geknickt, jedoch nicht gebrochen. Sie schmiedete schon bald neue, ehrgeizige Pläne. Das Erbe, das sie antrat, erlaubte ihr, in grösseren Dimensionen zu denken. Die Villa an der Lautengartenstrasse sollte sich zu einer Mischung aus Kultursalon und Künstleratelier wandeln. Doch dann ereilte sie in den frühen Morgenstunden des 28. Dezember 1973 ein Herzinfarkt, an dessen Folgen sie verstarb.

Zum Zeitpunkt, da sie wirklich über substanzielle finanzielle Mittel verfügte, war ihr der grosse Wurf als Mäzenin der Künste nicht mehr vergönnt. Dieses Schicksal, an der Schwelle zu grossen, für das Basler Kulturwesen bedeutenden Taten, plötzlich aus dem Dasein herausgerissen zu werden, verleiht ihrem Leben, das viele Höhen und Tiefen kannte, einen tragischen Zug.

Das Cembalo war ihre Leidenschaft – Antoinette in späteren Jahren.

Vor ihrem Tod hatte sie gegenüber ihrem Anwalt angedeutet, ihr Vermögen letztwillig in eine Stiftung einbringen zu wollen. Zum vorgesehenen entscheidenden Treffen Anfang 1974 kam es indes nicht mehr. Dr. Markus Kutter trat das Erbe an, wie es das ursprüngliche Testament vorgesehen hatte.

Ende 1974, nur ein Jahr nach ihrem Tod, musste das Progressive Museum schliessen. Seine Sammlung, darunter nicht wenige Werke von Antoinette, ging 2005 an das «Museum Haus Konstruktiv» in Zürich.

Fotos: Paul Sacher Stiftung, Basel, Sammlung Antoinette Vischer

Dieses Porträt hat Fritz Vischer redigiert.
Ihm liegt der umfangreichere und mit Quellenangaben versehene Text von Bodo Vischer zugrunde. 

> Der längere Originaltext von Bodo kann hier als PDF heruntergeladen werden.

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