Emma von Radanowicz-Harttmann-Vischer (1910–2007)

Aufgeschlossen und souverän

 

Emma Katharina von Radanowicz=Harttmann-Vischer, 27.7.1910 bis 28.6.2007
Stamm C

Hubert Berti Karl Heinrich Paul Maria von Radanowicz=Harttmann-Vischer, 1.8.1897-19.12.1993

 

Zusammengefasst von Barbara Goepfert-Vischer.

«Emmeli», wie sie in der Familie genannt wurde, hat ihr bewegtes Leben in einer Schrift von rund 80 Seiten geschildert. Der nachstehende Text gibt diese Erinnerungen in geraffter Form wieder.

 

Der erste Weg führt ans Lehrerseminar …

Aufgewachsen ist Emma zusammen mit ihren vier älteren Brüdern – Eduard, Benedikt, Andreas und Christoph – im aargauischen Rupperswil, wo ihr Vater, Eduard Vischer, Dorfpfarrer war. Obschon auch die Mutter, Emma, geborene Heusler, grossbürgerlicher Herkunft war, passte sich die Familie ganz dem einfachen Dorfleben an und war sehr sozial eingestellt.

Anders als bei ihren Brüdern stellten die Eltern für Emma schon früh die Weichen – nicht Richtung Matura und Universitätsstudium – sondern Richtung Lehrerseminar. Dieses schloss sie 1930 mit der besten Abschlussprüfung ab. Dort begann sie sich auch für linke Politik zu interessieren. Sie bewarb sich für eine Stelle in einer Tagesstätte für verwahrloste Kinder, die ein Arzt leitete. Er war Kommunist. Er lehnte Emma allerdings wegen ihrer grossbürgerlichen Herkunft ab.

… der zweite nach Wien

Nach einigen Praktika realisierte Emma, dass sie sich gerne weiterbilden würde, um besser mit behinderten Kindern umgehen zu können. Als 21-Jährige reiste sie deshalb nach Wien, wo sie nebst einer heilpädagogischen Ausbildung eine Ausbildung zur Montessori-Lehrerin machen konnte.

Die Eltern betrachteten diese Weiterbildung von Emma in Wien als Luxus, obschon sämtliche Brüder ganz selbstverständlich studieren durften. Sie bekam viele Briefe mit Ermahnungen, fleissig zu sein und sparsam zu leben. Sie blieb indes souverän und passte auch ihr Äusseres der aktuellen Mode in der Stadt an. Sie schnitt die langen Zöpfe ab und gönnte sich eine kecke zeitgemässe Haartracht. Ihre Eltern waren gar nicht begeistert.

Emma in Wien, um 1932.

Noch während der Ausbildung bekam Emma eine Stelle in der Montessori-Schule für die 1. und 2. Klasse, etwa 20 Schüler und Schülerinnen. Das Spektrum reichte von verhaltensauffällig bis hoch intelligent. Unter anderem unterrichtete sie dort den kleinen Fritzli Stowasser, später bekannt als Friedensreich Hundertwasser. Zu dieser Zeit machte sie auch eine Psychoanalyse, in deren Verlauf sie mehr Selbstsicherheit und -vertrauen gewann. Nach der Montessori-Ausbildung besuchte sie unter anderem psychoanalytische Kurse für Pädagogen und ein Seminar bei Anna Freud.

In Wien lernte sie auch ihren späteren Ehemann, den 13 Jahre älteren Elektroingenieur Hubert Karl Heinrich Paul Maria (Berti) von Radanowicz=Harttmann, kennen, den sie 1935 heiratete. Mit der Heirat musste sie den Schweizer Pass abgeben und wurde Österreicherin, was sich aufgrund der späteren politischen Entwicklung in Europa als fatal erwies.

In den sechs Jahren nach der Hochzeit war sie, wie in der Zeit üblich, in erster Linie Ehefrau und Mutter. Ihr Leben wurde in dieser Zeit durch die beruflichen Möglichkeiten Bertis sowie die politischen Umwälzungen in Europa geprägt. Auf Madrid, das sie schon nach eineinhalb Jahren wegen dem spanischen Bürgerkrieg wieder verlassen mussten, folgten Aufenthalte in Berlin und Paris. Während dieser Zeit wurde Österreich dem deutschen Reich angeschlossen. Emma und Berti wurden nun Deutsche.

Bertis Berufsweg führt nach Persien

Kurz nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges siedelte die junge, nunmehr vierköpfige Familie mit Bernhard (geboren 1936) und Georg (1939) nach Teheran über, wo Berti zum technischen Direktor von Siemens Persien ernannt worden war.

Als Deutschland 1941 den Freundschaftsvertrag mit Russland brach, stand plötzlich auch Persien, der heutige Iran, mitten im Krieg, und der Schah musste den Russen und den mit ihnen verbündeten Engländern alle deutschen Männer ausliefern. So kam es, dass Berti nur wenige Tage nach der Geburt ihres dritten Kindes, Christine, in russische Gefangenschaft geriet. Während der nächsten 14 Jahre blieb er, trotz aller Bemühungen, ihn zu finden, für seine Familie verschollen.

Emma und ihre drei Kinder, zum Glück begleitet von ihrer geliebten Schweizer Kinderschwester Bethli, wurden zusammen mit anderen deutschen Frauen und Kindern von den Russen an die türkische Grenze transportiert, von wo aus sie als Flüchtlinge die anstrengende und gefährliche Heimreise fortsetzen konnten.

In Aarau angekommen, wo der Vater inzwischen Spitalpfarrer war, erhielt Emma aber als deutscher Flüchtling keine Aufenthaltsbewilligung. Zum Glück erhielt sie diese in Basel. In der Folge konnte sie in das Haus ihrer verstorbenen Grosseltern einziehen, den Birkenhof an der Malzgasse, wo auch ihre Tante, und später ihre Mutter wohnten.

Emma war jetzt also Flüchtling im eigenen Land. Finanziell war sie am Anfang stark von ihrer Verwandtschaft abhängig. Erst sechs Jahre nach ihrer Niederlassung in Basel durfte sie Arbeit suchen und fand auch Stellen: in der Mütterschule als Religionslehrerin, im Mädchengymnasium als Erziehungslehrerin und in einer Sonderschule als Kleinklassenlehrerin.

Neben dem beruflichen Engagement, das ihr sehr gefiel, war ihr Leben aber recht schwierig. Die Suche nach Berti, Krankheiten der Kinder sowie knappe Finanzen belasteten sie sehr. Auch gesellschaftlich war es zu dieser Zeit schwierig, als alleinerziehende Frau zu bestehen.

Endlich kommt Berti zurück

Nach Abschluss eines Friedensvertrages zwischen Österreich und Russland 1955 erhielt Emma nach 14 Jahren endlich den ersten Brief von Berti – und nur vier Tage später war er wieder bei seiner Familie. Trotz aller Entbehrungen kam er körperlich und seelisch als gesunder Mann zurück.

Dennoch blieb das Leben anspruchsvoll für Emma. Da Berti in der Schweiz keine Stelle finden konnte, musste er eine in Deutschland annehmen. Für Emma bedeutete das, dass sie sich zwischen einem Leben zusammen mit ihrem wiedergefundenen Ehemann und demjenigen mit ihren heranwachsenden Kindern, die aufgrund der Schule am besten in Basel blieben, entscheiden musste. Ein Dilemma, da die Kinder sie doch noch sehr brauchten. Bis Ende 1956 blieb sie daher in Basel, mit kürzeren Besuchen bei Berti.

Nachdem sie 1957 nach Erlangen in Bayern umgezogen war, setzten bei den Kindern gesundheitliche bzw. schulische Schwierigkeiten ein. Sie musste deshalb häufig zurück nach Basel kommen. Dennoch hatte Emma in Erlangen auch wieder zu arbeiten begonnen: Zunächst in einer neugegründeten Hilfsschule für geistig stark behinderte Kinder, später in der städtischen Jugend- und Familienberatung, zuerst als Erziehungsberaterin, Heilpädagogin und Kindertherapeutin, später als Eheberaterin. Diese Aufgaben erfüllten sie sehr. Allerdings empfand sie das ‹Doppelleben› zwischen den eigenen Kindern im fernen Basel und dem beruflichen Engagement in Erlangen als schwierig und Kräfte raubend. Besonders unangenehm wurde es für Emma, als 1958 ihre Tante und kurz darauf ihre Mutter starben. Ihre Brüder beschlossen in der Folge, das Haus der Grosseltern, in dem zwei ihrer Kinder noch wohnten, zu verkaufen.

Schliesslich ziehen sie nach Reinach

1972 wurde Berti pensioniert. Das Ehepaar nutze die Gelegenheit und verlegte seinen Wohnsitz in die Schweiz nach Reinach nahe Basel. Emma blieb auch hier nicht untätig. Sie machte einzelne Eheberatungen und arbeitete bei Christ und Welt mit. Vor allem befriedigte sie die Mitarbeit in der Selbsthilfegruppe für Frauen mit MS-kranken Ehemännern der Regionalgruppe beider Basel für Multiple-Sklerose Patienten. Sie setzte sich dort auch im Vorstand ein.

1985 verunfallte Berti. Emma pflegte ihren Mann noch während acht Jahren bis zu seinem Tod. Sie selbst hat ihren Mann um 15 Jahre überlebt und ist im Alter von 97 Jahren gestorben.

Emma hat in ihrem langen Leben viele Veränderungen in der Welt miterlebt. Bis zuletzt blieb sie eine aufgeschlossene, engagierte, sowie an Politik und Gesellschaft interessierte, souveräne Frau. Viele äussere Umstände, vor allem auch bedingt durch die Ehe mit ihrem österreichischen Mann, haben den Lauf ihres Lebens massgeblich beeinflusst und sie herausgefordert. Ihre Arbeit mit geistig schwachen oder behinderten Kindern, die sie in Wien vor ihrer Ehe an der Montessori-Schule begonnen hatte, hat sie immer begeistert. Ihr berufliches Engagement hat es auch ermöglicht, dass sie in der schwierigen und ungewissen Zeit von Bertis Abwesenheit ihre Familie durchbringen konnte.

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