Paul Georg Vischer-Geigy (1871–1971)

Architekt und Grandseigneur

Paul Georg Vischer-Geigy, 4.6.1881 bis 10.9.1971
Stamm C

Maria Elisabeth Vischer-Geigy, 11.2.1892 bis 23.9.1978

 

von Bodo Vischer

Paul Vischer besass aussergewöhnliche Führungsqualitäten und ein grosses Organisationstalent. Beide Eigenschaften prädestinierten ihn geradezu, im Laufe seines Berufslebens leitende Funktionen einzunehmen – sei es als Mitinhaber des väterlichen Architekturbüros, dem er gemeinsam mit seinem älteren Bruder Ernst vorstand, sei es als Präsident von Architekturvereinen oder als Oberst in der Armee.

Ein Nesthocker?

Angesichts der Fülle an gewichtigen Positionen, in denen er Verantwortung zu übernehmen wusste und zugleich exponiert war, überrascht es umgekehrt zu erfahren, dass der «kleine Paul» nach eigenem Zeugnis in seiner frühesten Jugendzeit ein Nesthocker war. Als sechstes von acht Kindern kam er zur Welt und erlebte eine ungetrübte Jugendzeit. Seine Mutter, Clara Vischer-Sarasin (1853–1937), verwöhnte ihn, seine älteren Geschwister hätschelten ihn. Trotzdem war er kein Muttersöhnchen, hing nicht am Rockzipfel. Wie alle Kinder unternahm er mit seinen Schulkameraden manche Streiche, trieb Unfug mit dem Pächter Furlemaier, der diesseits des «Engelgässli» einen Landwirtschaftsbetrieb führte. Paul lernte das Trompetenspiel und das Trommeln, spielte an Familienanlässen oder nahm an der Fasnacht teil. Beim städtischen Reitlehrer in der Kaserne Klingenthal erhielt er Reitunterricht. Der Vater, der Architekt Eduard Vischer-Sarasin (1843–1929), der selbst bis ins hohe Alter ein Reitpferd hielt, unterstützte seine Bestrebungen.

Früh übt sich

Natürlich spielte im Haus eines Architekten das Zeichnen und Aquarellieren eine grosse Rolle. Dabei entwickelte Paul erstaunliche Fähigkeiten. Er schrieb mit der rechten und zeichnete mit der linken Hand. Vielleicht war es auch umgekehrt, erinnert sich seine Enkelin, Christine Vischer. Gleichermassen beherrschte Paul die Spiegelschrift und vermochte sogar Portraits seitenverkehrt zu zeichnen. Familiäre Einladungskarten pflegte er mit humorvollen Zeichnungen zu illustrieren. Auf Reisen hielt er seine Eindrücke nicht nur mit dem Fotoapparat fest, sondern auch mit Zeichenstift und Aquarellpinsel.

Lehre im väterlichen Büro

Nach der Matura im Jahre 1900 entschloss sich Paul, im väterlichen Büro eine Lehre zu beginnen. Anschliessend studierte er von 1902–1904 an der Technischen Hochschule in Karlsruhe bei Oberbaurat Carl Schäfer, wo er sich das theoretische Wissen für seinen künftigen Beruf als Architekt aneignete. Anschliessend unternahm er mit seinem Bruder Ernst und seinem Freund Max Alioth eine Reise nach Nordfrankreich, um dort die imposanten Kathedralen zeichnerisch zu studieren. Sodann brach er nach Berlin auf, wo er eine Stelle beim Stadtbauamt annahm. Er genoss die Gesellschaft von Freunden aus Karlsruhe oder der Schweiz und unternahm Ausflüge mit ihnen. Weniger behagte ihm, dass sich das Militär und der oberste Kriegsherr, Kaiser Wilhelm II, in die Fragen der Kunst einmischten. Dagegen herrschte in Frankreich, wo er von 1905 bis 1907 seine Studien an der École des Beaux-Artsbeendete, «eine freiere Atmosphäre». Nach Paris zog es auch befreundete Basler Künstler wie Jean Jacques Lüscher (1884–1955), Paul Basilius Barth (1881–1955) und Numa Donzé (1855–1952), mit denen er über die neusten Entwicklungen in der Malerei debattierte. Nach Abschluss seiner Pariser Zeit, brach Paul im Herbst 1907 zu einer längeren Studienreise nach Italien, Griechenland und in die Türkei auf.

Zurück in Basel

Nach seiner Rückkehr 1908 trat er in das väterliche Büro E. Vischer & Sohn ein, wo bereits sein älterer Bruder Ernst tätig war – und wohnte wieder zu Hause. Die stattliche elterliche Villa Zum Karpf, die der Vater in den Jahren 1878/79 an der Langen Gasse 88 erbaut hatte, verliess Paul erst anlässlich der Heirat mit Elisabeth Geigy am 2. Dezember 1913. Da zählte er bereits 32 Jahre, und der erste Weltkrieg zeichnete sich am Horizont ab. Indessen konnte das junge Paar noch vor Ausbruch der europäischen Katastrophe seine Hochzeitsreise nach Ägypten antreten. Nach ihrer Rückkehr zogen Paul und Elisabeth Vischer-Geigy in eine grosszügige Wohnung des Verwaltungsgebäudes der Basler Versicherung an der Dufourstrasse. Dort hielten sie sich jeweils im Winter auf. Den Sommer pflegten sie auf dem Landgut Klein-Riehen bei den Schwiegereltern Geigy-Schlumberger zu verbringen. Diesen Rhythmus hielten sie bei, bis sie nach dem Tod von Pauls Mutter, Clara Vischer-Sarasin, im Jahr 1938 die Villa Zum Karpf übernahmen.

Familie Paul Vischer-Geigy, im Garten der Villa Zum Karpf, August 1948.

Kaum hatte sich das junge Paar häuslich eingerichtet, ordnete der Bundesrat am 1. August 1914 die Mobilmachung der Schweizer Armee an und wählte den deutschtümelnden Major Ulrich Wille zum General. Die Welschen beäugten den neuen Oberbefehlshaber misstrauisch. Der General sprach durchwegs Hochdeutsch und neigte stark zum schnittig-preussischen Auftritt. Paul hatte diese Attitüde während des sogenannten Kaisermanövers am 6. September 1912 persönlich miterlebt. Am Defilee für den Staatsgast, den deutschen Kaiser Wilhelm II., glich die Kompanie unter dem Kommando von Ulrich Wille «einer ganz preussisch gedrillten Soldaten-Abteilung», erinnerte sich Paul Vischer. «Dem gegenüber wirkte das einfache und prunklose Auftreten des damaligen Bundespräsidenten Forrer echt schweizerisch.» Paul Vischer respektierte den General wegen dessen unbestrittenen militärischen Fähigkeiten. Zwischen den Zeilen aber zeichnet sich deutlich der Kompass seines Wertesystems ab.

Aktivdienst ab August 1914

Im Sommer 1914 standen keine Schweizer Soldaten mehr vor Kaiser Willhelm II. Spalier. Diesmal liess der Kaiser die benachbarten Staaten überfallen. Am 3. August 1914 erreichte Paul Vischer, zu diesem Zeitpunkt bereits im Rang eines Hauptmanns, das Aufgebot für den Aktivdienst. Als Kommandant der Sappeur-Kompanie III/5 wurde er an die Westgrenze geschickt, nach Les Rangiers. In Basel, wo seine hochschwangere Frau zurückblieb, war vom nahen Elsass Kanonendonner und Fliegerlärm zu hören. Die Stimmung war angespannt. Pauls Kompanie hatte bei Lützel Strassenkorrekturen durchzuführen, da erklang Alarm: Am gegenüberliegenden Glaserberg, auf deutschem Gebiet, sei Artillerie aufgefahren, fänden Kampfhandlungen statt, japste ein Oberleutnant mit kreideweissem Gesicht. Paul Vischer bewahrte ruhig Blut, glaubte nicht an einen begründeten Alarm. Tatsächlich stellte sich später heraus, dass es sich bei der feindlichen Artillerie um einen harmlosen Mistwagen handelte, den ein Bauer herumfuhr.

In brenzligen Situationen Ruhe zu behalten, zeichnete Paul Vischer aus. Angsthasen und entscheidungsschwache Figuren mochte er nicht leiden, erst recht nicht, wenn es sich dabei um Vorgesetzte handelte. Das war schon während seiner Rekrutenschule 1901 bei den Genietruppen so, wo die «hilflose Figur» seines Zugführers ihm und seinen Kameraden «manches Strafexerzieren einbrockte».

Auch wenn Paul Vischer den Alarm ignorierte, war er kein leichtsinniger Hasardeur, sondern jemand, der mit Besonnenheit voranging, die Initiative ergriff. Manchmal biss er bei den Vorgesetzten auf Granit. Sein Vorschlag, für eine Pfahljochbrücke über die Birs bei Münchenstein wieder- verwendbare und zudem billigere Eisenträger zu verwenden, wurde stur zurückgewiesen: eine solche Konstruktion entspreche nicht dem Reglement für Pionierarbeiten von 1912. Wahrscheinlich war das Reglement bereits bei Inkraftsetzung veraltet, und es zogen sich Jahrzehnte bis zu seiner Erneuerung hin: «Erst im Jahre 1952 [wurde dieses] durch meinen Sohn, Major J.J. Vischer, mit dem Reglement Geniedienst aller Waffen ersetzt», erinnerte sich Paul nicht ohne Stolz.

Major Johann Jacob Beppi Vischer, von 1972–1976 Generalstabschef der Schweizer Armee, war der älteste Sohn von Paul und Elisabeth Vischer-Geigy. Beppi wurde unmittelbar nach dem «Glaserberger-Alarm» am 12. September 1914 geboren. Kaum hatte sich an der Grenze der vermeintliche Alarm in Luft aufgelöst, eilte Paul nach Basel, um seinen «Erstgeborenen in Augenschein zu nehmen». In den Jahren 1916, 1920 und 1923 folgten drei weitere Söhne: Paul, Peter und Ambrosius. Elisabeth Vischer-Geigy war stolz, eine «Bubenmutter» zu sein.

Paul Vischer-Geigy mit seinen Söhnen Peter Hieronymus, Johann Jakob («Beppi»), Paul Rudolf und Heinrich Ambrosius, 1948.

Im Grunde ein scheuer Mensch

Vergegenwärtigt man sich die Tatkraft und Entschlossenheit, die Paul Vischer während der gesamten Zeit seines Militärdiensts (1901–1945) zeigte, lauter Eigenschaften, die mit steten Beförderungen bis zum Rang eines Obersts (1928) honoriert wurden, so erstaunt es umkehrt wiederum zu erfahren, dass er in Herzensangelegenheiten scheu war. Paul hatte seine künftige Gattin über seinen Bruder Ernst kennengelernt, der mit Lucky, der älteren Schwester von Elisabeth, verheiratet war. Indirekt – besser: diskret – entwickelte sich auch ihr Liebesbund. Es heisst, «ein wesentlicher Teil der Beziehung erfolgte auf brieflichem Weg. So auch der Heiratsantrag, der sie in den Ferien in Holland erreichte.»

«E. & P. Vischer Architekten», ein prominentes Büro

Die beiden Brüder standen sich nicht nur wegen der jeweiligen Heirat einer Geigy-Tochter besonders nahe, sondern auch beruflich. Nachdem sich der Vater 1924 aus dem Beruf zurückgezogen hatte, führten die beiden Brüder auch das Büro unter dem Namen E. & P. Vischer Architekten gemeinsam weiter. Nach dem Krieg entwarfen sie drei stattliche Häuser an der Peter Merian-Strasse, deren mittleres Ernst bezog. Für Dr. René Clavel schufen sie einen Erweiterungsbau auf Castelen in Kaiseraugst. Für ihren Bruder, den Kaufmann Adolf Vischer-Simonius, entwarfen sie die Villa Haslihorn in St. Niklausen am Vierwaldstättersee. Ursprünglich gehörte das Anwesen dem belgischen Königshaus. Nach einem tragischen Autounfall, bei dem am 29. August 1935 die erst dreissigjährige Königin Astrid ums Leben kam – ihr Gatte Leopold III. sass als Chauffeur verkleidet am Steuer – entschloss sich der König, den Landsitz zu verkaufen. Den Zuschlag erhielt Adolf Vischer unter der Bedingung, die ursprüngliche Villa abzureissen.

Das markante Turmhaus, das erste Betonhochhaus von Basel, um 1940.

Neben solch prestigeträchtigen Aufträgen setzten sich E. & P. Vischer Architekten auch für den sozialen Wohnungsbau ein. Ferner engagierten sie sich beim Bau von Verwaltungs- und Industriegebäuden. Sie waren die Hausarchitekten der Basler Versicherung (Basler Leben) und der J.R. Geigy AG. Im Auftrag der Basler Versicherung zogen sie 1930 das Turmhaus am Aeschenplatz hoch, das erste Basler Hochhaus. Weitere Geschäftssitze für Basler Leben entstanden in St. Gallen (1931), Fribourg (1935) und Lugano (1936). Das Verwaltungsgebäude der J.R. Geigy AG an der Schwarzwaldallee wurde 1932 eingeweiht. Aber auch für das Museums- und Spitalwesen waren sie tätig. 1914–1918 zeichneten sie, noch gemeinsam mit ihrem Vater, für den Erweiterungsbau des Völkerkunde-Museums verantwortlich. 1922 erhielten sie den Auftrag für den Erweiterungsbau des Frauenspitals, und 1926 wurde unter ihrer Regie der Wasserturm auf dem Bruderholz errichtet. Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs fiel der Baubeginn des Bürgerspitals zusammen, das sie in Zusammenarbeit mit den Architekten Hermann Baur sowie Bräuning, Leu & Dürig realisierten. Paul Vischer übernahm die Gesamtleitung. Er tat dies gleichsam in einer Doppelfunktion als Architekt und Oberst der Schweizer Armee. In einem der Innenhöfe wurde in kürzester Zeit eine militärische Sanitätsstation errichtet. Sie enthielt eine Entgiftungsstation, und die Kapazität war auf die Ausführung von 180 Operationen und die Versorgung von 500 Leichtverletzten ausgerichtet.

Ferner hatte der Kirchenbau einen grossen Stellenwert, wo Ernst Vischer, als Mitglied des Evangelisch-reformierten Kirchenrats, federführend war. In Zusammenarbeit mit der Denkmalpflege setzte er sich für sanfte Renovationen ein. Beispiele sind die zum Basler Münster gehörenden Niklaus- und Magdalenenkapelle sowie der Bischofshof.

1948: Sein älterer Bruder stirbt

Mitten in der Planungsphase für die Erneuerung der Glasfenster des Basler Münsters verstarb 1948 Ernst Vischer an einem Herzleiden. Paul Vischer führte die Renovation zu Ende und nahm 1948 zunächst seinen Sohn Peter und später, 1955, den jüngsten, Ambrosius, in das Büro auf, das in dritter Generation unter dem Namen Vischer Architekten firmierte.

Das erste Grosskind Johann Jakob («Hanjo») Vischer, geb. am 1. Februar 1950, 10 Tage alt.

Im hohen Alter von 84 Jahren zog sich Paul Vischer Mitte der 1960er-Jahre aus dem Berufsleben zurück. Fortan widmete er sich vermehrt der Familie, besuchte mit seiner Gattin die Kinder und Enkelkinder, sei es in Ittingen, dem Wohnort von Beppi und Erika Vischer-Messer, oder in Schenkon am Sempachersee, dem Feriendomizil von Peter und Flo Vischer-Martin. Nach dem frühen Tod von Peter Vischer 1969 wurden die Grosseltern wichtige Bezugspersonen für die Kinder von Peter und Flo.

Paul und Elisabeth Vischer-Geigy empfingen die Familienmitglieder regelmässig zu Hause in der Villa zum Karpf. Hier war es der Hausherrin ein Anliegen, den Ort als Zentrum für die engere und weitere Familie zu erhalten. Sie genoss es, an Familientagen oder Weihnachten die grosse Schar von zwölf Enkelkindern um sich zu haben. Sie besass einen hohen Gerechtigkeitssinn und führte genau Buch darüber, auf dass jedes Grosskind gleich beschenkt wurde.

Dieser ausgeprägte Familien- und Gerechtigkeitssinn, den Elisabeth pflegte, korrespondierte auch mit Paul Vischers Lebensweisheit: «Man kann erst im Alter ermessen, welche Bedeutung eine glücklich verlaufene Jugendzeit mit vielen schönen Erinnerungen für das nachfolgende Leben hat. Der Zusammenhang in unserer engeren und weiteren Familie gab mir ein Gefühl der Geborgenheit.»

In seinem 91. Lebensjahr ist Paul Vischer, der Grandseigneur der Basler und Schweizer Architekten und Präsident zahlreicher, auch internationaler Berufsverbände, verstorben. Es war ihm noch eine grosse Freude, 1970 das hundertjährige Jubiläum der «Vischer Architekten» mitfeiern zu können.

 

 

 

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