Stine Staehelin Koechlin-Vischer (1903–1996)

Mater familias und Gastgeberin

Marie Christine Stine Staehelin Koechlin-Vischer, 5.10.1920 bis 10.12.2019,
Stamm B

Andreas Staehelin-Vischer, 27.9.1914-30.1.1996
Hartmann Harti Peter Koechlin-Staehelin, 28.9.1919-10.2.2018

 

von Fritz Vischer

Marie-Christine klingt schön und vornehm, wäre ihr aber zu förmlich gewesen. Für Freunde, Bekannte und Verwandte war sie einfach «Stine». Das passte besser zu dieser zupackenden Frau, die immer spontan, lebenslustig und sonnengebräunt daher kam. Herzhaft konnte sie lachen, ihre Stimme klang kraftvoll und stand für die Energie, die sie ausstrahlte und hatte.

Der Grossvater Vischer war «deeply religious»

Ihren Grossvater, Adolf Eberhard Vischer-Sarasin, erlebte Stine längst nicht mehr. 1902, 18 Jahre bevor sie zur Welt kam, war er, 63-jährig, gestorben. Wie viele seiner Vorfahren liess er sich in seiner Heimatstadt und im Ausland zum Kaufmann ausbilden. Unter anderem verbrachte er drei Jahre in Shanghai in einem Handelshaus, bis er 1865 nach Basel zurückkehrte und sein eigenes Geschäft gründete, das mit Rohseide handelte. Er galt als der beste Seidenkenner der Schweiz. Zugleich war er gläubig und richtete sein Leben im späteren Verlauf ganz danach aus. Sein Enkel, Peter Hanns Michael Vischer-Murphy (1920-2009), drückte das 1987 in seiner The Story of the Vischers so aus: «Adolf was deeply religious, a man of high ideals and something of a discilinarian. He believed that to be a christian meant more than subscribing to the tenets of his faith; it meant putting those principles into practice. We can therefore better understand his motives when, one day, he called his wife and children to ask their consent to give away the inherited family fortune to the evangelical Movement, to sell the prestigious family house and to move to a more modest home in Basel.»[1]

Das familiäre Vermögen ging so, wohl grösstenteils, an den 1882 von Adolf Vischer-Sarasin mitgegründeten Verein für Evangelisation und Gemeinschaftspflege[2]. 1884 verliessen er und seine Familie «das schöne, von ihm gebaute Haus zur Pergola an der Gartenstrasse, um mit dem Christentum ganz ernst zu machen, und nahm Wohnung am Steinengraben[3]». Zur selben Zeit wurde Adolf überdies «das Haupt weit verzweigter Evangelisationstätigkeit», schreibt Fritz Vischer-Ehinger in seiner 1933 erschienenen Chronik Die Familie Vischer in Colmar und Basel und fährt fort: «Seit 1897 Vorsteher des Diakonissenhauses in Bern. Starb und liegt begraben in Bern.» In die Bundeshauptstadt war die Familie gezogen, als der Familienvater die Leitung der Diakonie übernahm.

Der Vater von Stine studiert Medizin

Stines Vater, Jacob Lucas Adolf Vischer-von Bonstetten (1884–1974), schloss als zweitjüngstes von acht[4] Kindern seine Gymnasialzeit in Bern ab. Anschliessend studierte er, wieder mehrheitlich in Basel, Medizin. Er blieb indes mit Bern verbunden und heiratete eine Bernerin. Zwei seiner älteren Brüder studierten in England. Die Nachkommen von Hanns Vischer-de Tscharner (1876-1945), bekannt als «Sir Hanns», leben noch heute dort und gelten in der mehrheitlich im Raum Basel wohnenden Grossfamilie Vischer als «die Engländer». Für Stine waren es Vettern und Cousinen ersten Grades. Marcus Matthäus Vischer-Merian (1879–1969) folgte den evangelisch geprägten Spuren seines Vaters direkt. Er wirkte als Theologe, auch als Feldprediger, für die anglikanische Kirche und kehrte erst nach dem Zweiten Weltkrieg zurück in die Schweiz. In Basel, Bern und Davos stand er im Dienst der englischen Kirche. Auch die älteren Schwestern von Adolf Vischer, für Stine Tanten, lebten den Gedanken der christlichen Nächstenliebe und Seelsorge nach: Maria Anna Gerber-Vischer (1870–1940) lebte als Pfarrfrau im Kanton Bern, Martha (1874–1933) vermählte sich mit dem ungarischen Theologen Richard Joseph Biberauer (1872–1939). Gemeinsam bauten sie ab 1901 ein Diakonissenhaus in Budapest auf.  

Stine lebte in dieser, nicht in jener Welt

Stine wuchs in einem Ärztehaushalt auf, bewegte sich mithin im Diesseits. Im evangelischen Sinne fromm war sie nicht, fürsorglich und anteilnehmend aber sehr. Den Mitmenschen soll es leiblich, nicht nur spirituell wohl ergehen. Diesem Ziel gehen gute Ärzte nach. Für ihren Vater galt das besonders: Er spezialisierte sich auf Altersmedizin, Gerontologie, leitete in Basel das Altersheim des Bürgerspitals und publizierte im Laufe seines Lebens viel.

Die Familie Vischer-von Bonstetten lebte zunächst am Blumenrain, später an der St. Johanns-Vorstadt 94 ob dem Rhein. Sechs Jahre nach Stine erweiterte ihre Schwester Marie Elisabeth, Marlies (1926-2011), den familiären Kreis. Sie knüpfte an die Berner Vergangenheit an und heiratete den Juristen René von Graffenried (1920-1998). Die Familie von Graffenried-Vischer lebte in Basel.

Stine besuchte die Schulen in Basel, Strassburg und Ftan im Engadin. Wohl dort entwickelte sich ihre Leidenschaft für den Skisport. Sie war Mitglied des Schweizerischen Damen-Skiclubs(SDS). Als sie knapp 20 Jahre alt war, brach der Zweite Weltkrieg aus. Das prägte auch sie: Sie setzte sich als Fahrerin beim Roten Kreuz ein. Einen Beruf im modernen Sinne erlernte sie nicht. 1945 heiratete sie Andreas, Andres, Staehelin, einen Mediziner, der sich der Chirurgie verschrieb und weit herum anerkannt war. Er hatte stets erreichbar zu sein. So wohnte die junge Familie anfänglich in der Nähe des Claraspitals, später in Riehen: Andres wurde dort Chef des Diakonissenspitals, womit sich, ohne dass sie es so geplant hätten, der Kreis zum Grossvater Vischer-Sarasin wieder schloss.

Stine war stets aktiv und zupackend.

Stine kümmerte sich um alle

Zu den ungeschriebenen Aufgaben, die Stine wahrnahm, gehörte es, ihrem beruflich engagierten und geforderten Mann den Rücken freizuhalten. Als vorbildliche «Mater familias», wie ihre Kinder sie im Nachruf bezeichneten, gelang ihr das sehr gut. 1945, 1947 und 1949 kamen die Kinder zur Welt: Simone, Nicole und Florian. Sie waren bei Stine in besten Händen. Zugleich waren Haus und Garten an der Morystrasse immer offen: Nicht nur für jüngere und ältere Gäste, die sich nachmittags im Schwimmbecken erfrischten. Stine bewirtete auch grosse Abendgesellschaften, unter ihnen die Spezis aus alten Zeiten, Mitglieder der Medizinischen Gesellschaft, die Rotarier, die Freunde vom Rytkämmerli und zahlreiche weitere Bekannte. Wer von auswärts kam, namentlich die Verwandten aus Bern, England und Ungarn, aber auch viele andere, durften das Gästezimmer beanspruchen. Stine liess sich von ihrem Familiensinn tragen.

1960 trat sie dem Stiftungsrat der Stiftung der Familie Vischer, Linie hinter dem Münster, bei. Während mehr als dreissig Jahren wirkte sie dort mit und sorgte unter anderem dafür, dass am gemeinsamen zweijährlichen Essen jeder und jede der vielen Vettern und Cousinen «nett gesetzt» waren. Sie wusste, welche sich vertragen, welche besser voneinander fernzuhalten sind. Auch nachdem sie das Gremium verlassen hatte, blieb ihr Rat gefragt.

Der zweite Ehemann Hartmann P. Koechlin-Staehelin hat sich lange Zeit für das westafrikanische Mali engagiert. (Foto Nils Fisch, 2013)

Bei einem dieser Gespräche im Jahre 1998 kündigte sie an: «Schon bald habe auch ich eine «Mutation» zu vermelden.» Im Jargon der Bürokraten, den auch die Familienstiftung kennt, bezeichnet dieser Sammelbegriff Geburten, Todesfälle und Eheschliessungen. Einige Wochen später wurde bekannt, dass sie Harti Koechlin, verwitwet wie Stine, heiraten würde. Dies, nachdem Andres 1995 einem Krebsleiden erlegen war.

50 glückliche Jahre hatte Stine mit Andres «in enger Verbundenheit» verbracht. Sein Hinschied «traf sie hart», schreiben ihre Kinder im Nachruf, und fahren fort: «Mit ihrer positiven Grundeinstellung konnte sie sich zum Glück bald wieder auffangen und ein neues Leben anfangen.» Harti kannte sie seit Kindesbeinen und in ihm «fand sie einen hoch geschätzten Partner, der ihr viele neue Erlebnisse und Freundschaften vermittelte». Beinahe 20 Jahre dauerte dieses zweite Eheglück, bis Harti 2018 verstarb. Stine folgte ihm knappe zwei Jahre später. «Die ihr wichtige ‹Contenance› liess sie bis in die letzten Wochen nie im Stich», erinnern sich ihre Kinder.

 

Anmerkungen

[1] Adolf war zutiefst religiös, ein Mann mit hohen Idealen und so etwas wie ein Disciplineur. Für ihn bedeutete Christ zu sein mehr, als sich den Grundsätzen seines Glaubens zu unterwerfen; es bedeutete, diese Prinzipien in die Praxis umzusetzen. Daher können wir seine Beweggründe besser verstehen, als er eines Tages seine Frau und seine Kinder anrief, um sie um ihre Zustimmung zu bitten, das geerbte Familienvermögen an die evangelische Bewegung zu verschenken, das repräsentative Familienhaus zu verkaufen und in ein bescheideneres Haus in Basel zu ziehen.

[2] heute Gemeinde evangelischer Christen, GEC, eine Freikirche

[3] zitiert aus dem Nekrolog über Adolf und Carolina’s Sohn Marcus Vischer-Merian; das Haus war an der Gartenstrasse 94.

[4] von denen drei jung verstorben sind.

 

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